Restaurant 1950: Brutal lokal und CO2 neutral

Im Restaurant 1950 begibt sich Fernsehkoch Simon Tress nicht nur erstmals ins Fine-Dining-Segment, mit dem CO2-Menü serviert er auch das klimafreundlichste Angebot Europas. Gutes Gewissen und Gourmet-Freuden – geht das?
Simon Tress am Passe im 1950

Restaurant 1950: Brutal lokal und CO2 neutral

Im Restaurant 1950 begibt sich Fernsehkoch Simon Tress nicht nur erstmals ins Fine-Dining-Segment, mit dem CO2-Menü serviert er auch das klimafreundlichste Angebot Europas. Gutes Gewissen und Gourmet-Freuden – geht das?

Simon Tress steht schon hinter der Theke, die hier ein Kochfeld ist, als wir an diesem Abend ins Restaurant 1950 kommen. „Setzt Euch. Fühlt Euch wie zu Hause, nur Schuhe bitte anlassen.“ Dreht sich um und zupft die letzten Teile einer Apero-Platte zurecht. Während die freundliche Dame im Service, Tress‘ Schwägerin, einen Chardonnay-Sekt vom Weingut Zähringer aus Baden anbietet, entschwindet ihre Kollegin nochmal für ein paar Minuten nach draußen. Und kehrt mit einem Strauß Kräutern zurück. Das Gewächshaus für selbige ist nur wenige Meter vom Restaurant entfernt.

Das Versprechen

Womit gleich zu Beginn drei Prinzipien dieses ungewöhnlichen Fine-Dining-Restaurants einmal klar gerückt sind: Simon Tress möchte hier Wohnküchenatmosphäre zelebrieren, er selbst wird den Kreis seiner zwölf Gäste den ganzen Abend lang allenfalls für wenige Minuten verlassen, und alle Zutaten kommen aus dem kleinstmöglichen Umkreis (und sind, wie alles im Hause Tress komplett biozertifiziert). Schließlich verspricht Simon Tress hier das klimafreundlichste Menü Europas. Und damit das auch jede:r nachvollziehen kann, enthält die Menü-Karte eine detaillierte Auflistung sämtlicher Zutaten samt deren CO2-Bilanz – CO2-Menü genannt.

Fernsehkoch Simon Tress betreibt mit seinen drei Brüdern und seiner Mutter ausgehend von der „Rose“ in Hayingen ein kleines Gastro-Imperium auf der Schwäbischen Alb. Schon lange verarbeitet der Koch ausschließlich bio-zertifizierte Produkte in seinen Restaurants – was in Deutschland nur ganz wenige Betriebe machen. Die Familie hat, neben einem Convenience-Suppen-Vertrieb, drei gutbürgerliche Restaurants etabliert. Nun hat er das Restaurant 1950 eröffnet, das erste Gourmet-/Fine-Dining-Restaurant der Gruppe. Oder, wie Simon sagt: „Mein Traum.“

Das Konzept

Dieses Restaurant ist einerseits eines der entspanntesten Gourmet-Lokale im Land, andererseits aber ohne ein paar Worte zum Konzept nicht wirklich zu verstehen. Also: In einem Raum mit angenehm hohen Fenster und im ziemlich zeitgenössischen Landhausstil eingerichtet, versammeln sich Freitag-, Samstag- und Sonntagabends sowie Sonntagmittags zwölf Gäste, Simon Tress und zwei Kolleg:innen, die sich hier Küche und Service teilen.

Sie produzieren das CO2-Menü in einer offenen Küche im Gastraum und suchen, was ziemlich unangestrengt gelingt, den Dialog mit ihren Gästen. Verarbeitet wird, was aus maximal 40 Kilometern Umgebung kommt. Alles erzeugt von Bioland- und Demeter-Landwirt:innen (von denen Ihr viele bei uns hier findet), die wie in einer Art Memory über den Abend auch auf lauter bunten Sammelkarten sichtbar gemacht werden. 

Das Menü

Das CO2-Menü ist ein Fünf-Gang-Menü, grundsätzlich vegetarisch. Bei drei Gängen gibt es für Fleischesser:innen aber eine zusätzliche, fleischlastige Beilage (die allerdings auch den Menü-Preis von 89 Euro um zwischen 13 und 19 Euro pro Gang hochschraubt).  Wer sich für alle oder einzelne davon entscheidet, auch das steht auf der Menü-Karte, zieht seinen Abend indes in Sachen Klimaverträglichkeit ziemlich ins Negative. Das kann Gast jederzeit nachvollziehen, weil Tress zusammen mit der Schweizer Agentur Eaternity die CO2-Bilanz jeder Zutat errechnet hat.

Auf Memorykarten präsentieren sich die Erzeuger:innen

Und das soll jetzt unverkrampft sein?

Ist es wirklich. 

Das liegt zum einen daran, dass Simon Tress im Restaurant 1950 ein ziemlich unkomplizierter Typ ist. „Wir wollen nicht den Zeigfinger ständig zeigen und die Gäste ermahnen“, hat Simon Tress zu Beginn gesagt. Und zum anderen, dass er und sein Team vom Raum an über den Ablauf des Abends bis hin zum Umgang zwischen Gast und Gastgeber:innen irgendwie immer den Ton treffen.

Das gleiche gilt für die Teller: Simon Tress entwickelt im Prinzip fort, was er in seinen Landhausküchen schon vorexerziert hat: eine fest in der Region Schwäbische Alb und ihren Produkten verankerte Küche, die hier um küchentechnische Ambition ergänzt wird. „Jedem Produkt den Respekt schenken, den es zum besonderen macht“, hat Tress seine Philosophie zur Zusammenstellung des CO2-Menü beschrieben. Und das tut er, indem er etwa auch eher rauhe Produkte wie Emmer, Karotte oder Kutteln bearbeitet.

Die Teller

Etwa das Thema Linse. Als Alblinse ist seit einigen Jahren wieder ein Top-Seller der Region hier. Gourmettechnisch gesehen aber auch ein schwerer Fall: relativ dominanter Eigengeschmackt, relativ erdig, relativ schnell beleidigt, wenn man in Sachen Konsistenz ihren Bedürfnissen nicht nachkommt. Tress serviert sie zum einen als eher klassischen Salat, der auf einem Spinattörtchen, Milchschaum und Gelbweizen daherkommt. Zum anderen als Falafel. Ein Teller, der das Prinzip des Menüs verdeutlicht: Im Mittelpunkt steht, wie hier der Linsensalat, eine durchaus bekannte Komponente, die durch eher ungewöhnliche Beigaben – hier der Milch-Schaum, das Spinattörtchen und eine Art Falafel aus Linsen – ergänzt wird. 

Ebenso beim zweiten Gang. Eine gegrillte Karotte kommt mit Kohlrabi in zweierlei Anfertigung auf den Tisch: fermentiert und als Perle. Dazu hilft Alb-Emmer auf Risotto-Art mit Blauschimmel-Käse á la Gorgonzola gebunden, um den Gast zu überraschen. Das Ganze thront auf einem Dinkelplätzchen. Das alles gelingt tatsächlich sehr gut. Verdeutlicht aber auch: Wer das 1950-Menü genießen möchte, sollte eine Bereitschaft mitbringen, sich von aus der Gourmet-Gastronomie bekannten Geschmacksbildern zu lösen.

Selbst Pfeffer bleibt außen vor

Denn Tress setzt bei Geschmack und Aromen tatsächlich ausschließlich auf das Alb-Terroir, das auch im Sommer eine gewisse Erdigkeit mit sich bringt. Selbst Zucker, der hier bekanntlich nicht wächst, wird gemäß Konzept nicht verwendet. Ebenso Pfeffer (außer im eigenen Gewächshaus gezogener Szechuan-Pfeffer).

Dass das aber überhaupt nicht muffig ist, zeigt der Gang Zwiebel und Gurke. Verschieden bearbeitete Gartengurken begleiten süß-sauer gegrillte Zwiebeln. Frisch. Knackig. Süffig. Wie weitläufig die Alb sein kann, zeigt der Hauptgang: Tomate wird so gearbeitet, dass sie Frucht und Umami maximal entfaltet: Als mit Butter (ja, wirklich) aufgeschlagenes Muß, als getrocknete Haut, als Frucht. Dazu gibt es Emmer und Zucchini-Röllchen, die das herzhafteste sind, was sommerliche Gemüseküche bisher so hervorgebracht hat.

Das Fazit

Das CO2-Menü im Restaurant 1950 zieht sich über vier Stunden, die aber nicht langweilig werden. Weil Simon Tress ein großer Unterhalter ist. Weil die Albküche ziemlich viele ungewöhnliche Geschmacksbilder hervorzaubert. Und weil der Service aus einer übersichtlichen Karte biodynamischer Weine auch solche servieren kann, die in den Essenspausen verzücken.  

Adresse: 1950 in der Gastronomie Tress, Aichelauer Str. 6, 72534 Hayingen
ÖPNV: Kaum möglich. Von Reutlingen HBF fährt der Bus 260 bis abwechselnd Engstingen oder Bernloch, von dort ein Sammeltaxi, was bis 60 Minuten vor Abfahrt reserviert werden muss

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